Scheinselbständigkeit

Unter dem Begriff "Scheinselbständigkeit" (im SoziologInnenjargon auch "neue Selbständige" genannt) werden all diejenigen Erwerbstätigkeiten summiert, die zwar formal als "Unternehmer"-Tätigkeiten gelten, faktisch jedoch typischen Arbeitnehmercharakter aufweisen. Gerade in jüngster Zeit nimmt die Anzahl derjenigen zu, die direkt vom Angestelltenverhältnis ins Selbständigendasein wechseln, ohne dass sich wesentliches an ihrer Tätigkeit ändert. Anstelle des Arbeitsvertrages tritt nun ein Werk- oder Dienstvertrag. Was sich aber wesentlich ändert, ist vor allem die soziale Absicherung. Diese fällt nun vollständig in die Verantwortung der "Selbstbeschäftigten". Formal betrachtet verdienen diese zwar oft deutlich mehr als ihre abhängig beschäftigten KollegInnen. Jedoch muß vom Einkommen neben den Steuern und Versicherungsbeiträgen für Rente, Krankheit, Unfall usw. auch noch Reserven für den Fall schlechter Auftragslage und längerer Krankheit abgezogen werden. Bei diesen Ausgaben wird von den "AlleinunternehmerInnen" meist gespart. Hinzu kommen noch die Kosten für Werkzeuge und Arbeitsmaterial, Übernachtungs- und Fahrtkosten bei Reisetätigkeit usw. Für den Fall der Pleite gibt es dann gar keine Absicherung – die Betroffenen landen meist direkt in der Sozialhilfe. Insgesamt betrachtet dürften somit die Einkommen der Scheinselbständigen – ein gleichartiges Absicherungsniveau vorausgesetzt – deutlich unter denen der Angestellten liegen.

In der Vergangenheit gab es schon immer "Ein-Personen-Firmen". Diese waren jedoch i.d.R. auf die sogenannten "freien Berufe" wie z.B. im Kunstschaffenden- und Medienbereich, im Aussendienst von Versicherungen, auf Rechtsanwälte, Steuerberater usw. beschränkt. Seit den 80er Jahren breitet sich die Selbständigkeit auch in anderen Bereichen aus. So gibt es auf Baustellen immer mehr "selbständige" Bauarbeiter, Monteure, Bauleiter..., die i.d.R. hauptsächlich für einen Unternehmer arbeiten – oft ihren alten "Arbeitgeber". Aber auch im Einzelhandel, im Transportwesen oder bei Kurierdiensten greift dieses Phänomen um sich, ebenso wie in der IT-Branche. Gerade in den Bereichen hochqualifizierter Dienstleistungsarbeit ist auch der Anteil derjenigen besonders hoch, die insgesamt betrachtet zu den (wenigen) Gewinnern der "neuen Selbständigkeit" gehören. Jedoch hat das auch seinen Preis – so liegt die Arbeitszeit der Selbständigen infolge des immensen Termindruckes deutlich über der bei Lohn- oder Gehaltsabhängigen.

Die Auftraggeber könne mit dem Mittel der Auftragsvergabe an Scheinselbständige anstelle fest angestellter Beschäftigter sämtliche Risiken auf die AuftragnehmerInnen abwälzen. Es werden nur noch vertraglich vereinbarte Leistungen bezahlt, alle Unwägbarkeiten wie z.B. Krankheit, schlechte Auftragslage oder sonstige Kosten, wie z.B. für Weiterbildung, Spesen, einen Grundbestand an Werkzeugen und Kleinmaterialien usw. werden ausgeschlossen.

Die fehlenden bzw. geringeren Sozialversicherungsbeiträge infolge Umwandlung von sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit in selbständige Beschäftigung veranlaßten staatliche Stellen zu einer genaueren Festlegung, welche Art von selbständiger Tätigkeit von vornherein als "scheinselbständig" zu klassifizieren und somit versicherungspflichtig ist. Dazu zählen die Abhängigkeit von nur einem Auftraggeber, fehlende eigene Angestellte, arbeitnehmerähnliche Tätigkeit (Weisungsgebundenheit) oder fehlendes selbständiges Agieren am Markt (Werbung, Beteiligung an Ausschreibungen...). Jedoch bieten die derzeitigen Regelungen immer noch genügend Schlupflöcher, durch die eine solche Einordnung umgangen werden kann. So erfolgt häufig die Auftragsbezahlung über Drittfirmen, es werden Scheinangebote abgegeben, häusliche Putzhilfen (pro forma) "angestellt" usw. Auf der anderen Seite befördert der Staat aber mit zahlreichen Anreizen die Existenzgründung – vor allem wohl, um die Arbeitslosigkeitsstatistik zu schönen. Erleichtert wird der "Sprung in die Selbständigkeit" auch durch die rasante Entwicklung in der Computertechnologie, wodurch die Investitionskosten für Selbständige stark gesunken sind.

Nützlich für Arbeitgeber ist auch die auf Grund der Abhängigkeit und der bisher fehlenden gewerkschaftlichen Organisierung hohe Erpreßbarkeit für ihre Forderungen. Streiks von Selbständigen sind von vornherein illegal, die Nichterbringung von Leistungen kann hohe gerichtlich durchsetzbare Schadenersatzforderungen nach sich ziehen.

Statistisch werden i.d.R. nur die Selbständigen insgesamt erfaßt. Dazu gehören neben den klassischen Kapitalisten auch Landwirte, die sogenannten "freien Berufe" und eben auch Scheinselbständige. Der Anteil der letzteren kann i.A. nur geschätzt werden. Ein Hinweis auf Scheinselbständigkeit ist das Fehlen von eigenen Angestellten oder aber ein (Netto-)Einkommen, das unter oder nur geringfügig über dem vergleichbarer abhängig Beschäftigter liegt. Ein genereller Hinweis auf Scheinselbständigkeit dürfte der Fakt sein, dass die Fluktuation von selbständiger zu abhängiger Beschäftigung (und umgekehrt) sehr hoch ist, die zwischen Selbständigen mit und ohne Angestellten jedoch sehr gering. Zudem gab rund ein Fünftel aller Selbständigen bei einer Befragung der OECD an, an einem kurzfristigen Wechsel in abhängige Beschäftigung interessiert zu sein.

In der BRD wurde bis 1990 vom Statistischen Bundesamt zwischen Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen unterschieden, wobei sich der prozentuale Anteil der Familienangehörigen immer mehr verringert hat. Die Zahl der Selbständigen insgesamt hat sich bis 1976 verringert (vor allem aufgrund der Schließung von bäuerlichen Familienbetrieben), befindet sich aber seitdem wieder im Anwachsen. Seit 1991 werden nur noch die Selbständigen insgesamt erfaßt.

Die Schätzungen für die Anzahl der Scheinselbständigen für die BRD bewegen sich – je nach Sichtweise – zwischen 200.000 und 1 Mio. Tatsächlich dürften auch die höchsten Schätzungen eher noch vorsichtig sein. Von den ca. 4 Mio Selbständigen in Deutschland (1996) sind etwa 1,5 Mio (1985 noch 770.000), die nicht in der Landwirtschaft arbeiten und keine Angestellten beschäftigen. Davon sind zwar fast die Hälfte Freiberufler, jedoch dürften unter diesen sich auch zahlreiche Erwerbstätige befinden, die zur Scheinselbständigkeit gerechnet werden müssen. Ebenso dürften auch manche unter den Selbständigen mit Angestellten sein, die diese nur zum Schein eingestellt haben und somit auch zu den Scheinselbständigen zu rechnen sind.

Der Trend zu den "proletaroiden Selbständigen" (so der Soziologe Geiger zu dem gleichen Phänomen Anfang der 30er Jahre) ist weltweit beobachtbar. Innerhalb der OECD ist in den 90er Jahren in den Ländern mit dem höchsten Zuwachs an selbständiger Beschäftigung (Kanada, Deutschland) gleichzeitig ein Sinken des Anteils der Selbständigen mit Angestellten zu verzeichnen, während sich diese Entwicklung In Großbritannien schon ein knappes Jahrzehnt vorher vollzog. OECD-weit ist der Anteil der Selbständigen ohne Angestellte von 61,6% (1983) auf 66,2% (1997) gestiegen. Nur etwa 3% der Selbständigen ohne Angestellte in den OECD-Ländern hatte binnen Jahresfrist selbst Beschäftigte eingestellt.

Franchising

Ein weiterer Bereich, bei dem zwar formal Selbständigkeit vorherrscht, jedoch faktisch weitreichende Abhängigkeiten bestehen, ist das sogenannte Franchising. Hierbei werden von sogenannten Franchise-Gebern, meist Handels- oder Restaurantketten oder Markenhersteller, Franchisenehmer unter Vertrag genommen, die für den Verkauf von deren Produkten zuständig sind. Marketing und Belieferung erfolgt unter Regie des Franchisegebers, für den eigentlichen Umsatz und die dazu vor Ort benötigten Investitionen sind die Franchisenehmer selbst verantwortlich. Diese beschäftigen oft selbst noch weitere Angestellte, sind aber recht erheblichen Einschränkungen bezüglich ihres "unternehmerischen" Handelns unterworfen. I.d.R. haben die Franchisegeber das Recht, den Laden selbst zu übernehmen, wenn der Franchisenehmer die Erwartungen bezüglich Umsatz nicht erfüllt oder gegen die auferlegten Beschränkungen verstößt. Insofern ist deren Existenz auch als prekär einzuschätzen, auch wenn sie teilweise selbst Angestellte haben.

Franchising ist hierzulande noch recht wenig verbreitet. International befindet sich dieses System jedoch im Aufwind. Am verbreitetsten ist es in den Vereinigten Staaten, Kanada und Japan. In Europa sind in dieser Beziehung Norwegen und Portugal führend, wo der Anteil am Handelsvolumen bzw. Umsatz im Restaurantbereich derzeit bei 18 bzw. 15% liegt. In Frankreich, das bei den grösseren Ländern als führend gilt, liegt der Anteil bei ca. 6%. Aber auch in Deutschland verbreitet sich Franchising zunehmend, derzeit liegen die Wachstumsraten bei 10...15% pro Jahr.

 


Bild 1

Bild 1 Selbständige (in Tsd.) ohne Beschäftigte in Deutschland 1985-1995 (Quelle: Eigene Berechnungen nach IAB-Kurzbericht 2/98)

Bild 2

Bild 2 Selbständige o. Beschäftigte (ohne Landwirtschaft) in den EU-Ländern und USA (Quelle: IAB-Kurzbericht 14/00 sowie Mishel/Bernstein/Schmitt: The State of Working America 2000/2001, Ithaca, New York, 2001 für USA)


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